Wenngleich einmal populär, so wird Imagica den meisten Lesern der heutigen Zeit kein Begriff mehr sein. Zu unrecht, denn hinter diesem 835 Seiten fassenden Monstrum versteckt sich ein einzigartiger Roman, der manch bekannterem Werk das Wasser reichen kann. Folgend eine Rezension des Fantasyklassikers, der durchaus zu begeistern weis.
„Pluthero Quexos, berühmtester Dramatiker der Zweiten Domäne, vertrat folgende Ansicht: Bei jedem Theaterstück – ganz gleich, wie breit angelegt und wie inhaltsschwer das Thema – es gab nur drei Protagonisten. Zwischen zwei verfeindeten Königen stand der Friedensstifter, Zwischen zwei Eheleuten, in Harmonie miteinander verbunden – ein Verführer, ein Kind. Zwischen Zwillingen – Erinnerungen an den Schoß der Mutter. Zwischen Liebenden – der Tod.“
Imagica beginnt untypisch für einen Fantasyroman; als erste handelnde Figur lernt der Leser Charlie Estabrook kennen, einen erfolgreichen Geschäftsmann, unterwegs im London des späten 20. Jahrhunderts – mit dem Ziel, seine Exfrau Judith ermorden zu lassen. Denn Estabrook sieht in der Trennung von Judith eine Kränkung, ein Verbrechen an seiner Person selbst, die allein ihr Tod sühnen kann.
In dem Auftragsmörder Pie’oh’pah glaubt Estabrook, das Werkzeug seiner Rachepläne gefunden zu haben. Über ihn soll es nicht eine Akte, nicht einmal eine Geburtsurkunde geben, ein Unsichtbarer in einer gläsernen Welt. Im Austausch gegen zehntausend Pfund erklärt sich Pie bereit, Judiths Leben ein Ende zu bereiten, sofern Estabrook keine Zweifel an seiner Entscheidung plagen.
In New York spürt Pie schließlich Judith auf, und ihm gelingt es, ihr die Hände um den Hals zu legen und sie zu würgen. Doch der Mordversuch schlägt fehl, und erstmals erkennt der Leser, dass es sich bei Pie um keinen Menschen handeln kann; der Auftragsmörder zieht sich lebensgefährliche Verletzungen zu, schafft es jedoch mühelos vom Tatort zu fliehen, augenscheinlich völlig unbeeinträchtigt.
Derweil plagen Estabrook nun doch Gewissensbisse, und er erkennt, dass er sich nicht mehr den Tod seiner einstigen Geliebten wünscht. In seiner Verzweiflung wendet er sich an John Furie Zacharias, besser als Gentle bekannt, einen Exfreund Judiths, und bittet ihn, auf sie achtzugeben. Gentle verdient sein Geld als Kunstfälscher, hat jedoch auch den Ruf eines gewissenlosen Frauenhelden, der sich von seinen oftmals wohlhabenden Affären aushalten lässt, doch mit Judith scheint ihn Tieferes zu verbinden, und schließlich erklärt er sich bereit, Estabrooks Bitte nachzugeben.
In New York vereitelt Gentle einen weiteren Anschlag auf Judiths Leben, doch bald wird klar, dass Pie, Gentle und Judith eine gemeinsame Vergangenheit verbindet, über die sich die letzteren beiden nicht im Klaren sind. Bald beginnt Gentle auf eigene Faust, nach Pie’oh’pah zu suchen, und schafft es schließlich auch, ihn aufzuspüren.
Und Pie erzählt von den fünf Domänen, fünf Welten, von denen die Erde nur eine ist, abgespalten von ihren vier Geschwistern. Pie, der sich zuvor bereiterklärt hat, von seinem Mordauftrag an Judith abzulassen, überredet Gentle, mit ihm eine Reise durch die anderen Domänen zu unternehmen.
Kernthema und Grundelement Imagicas sind die vier Domänen, Welten, die neben der Erde existieren. Alle fünf Domänen waren einst verbunden, jedoch wurden die vier anderen Domänen von der Erde getrennt. Immer wieder ist durch wenige eingeweihte Menschen versucht worden, die Domänen durch einen Rekonziliation genannten Prozess wieder miteinander zu vereinen. Noch immer ist es diesen wenigen Eingeweihten möglich, durch das In Ovo zu schreiten, den Raum, der die Erde von den anderen Domänen trennt, und somit in die anderen vier Welten vorzudringen.
Auch wenn Barkers Blick immer stark auf seinen Figuren zentriert bleibt, schafft er es, die Domänen wundervoll versiert und auf spürbare Weise fremd zu zeichnen, anders, geradezu unvertraut. Eine Lebendigkeit zeichnet die Welten Barkers, die so fern jeder Genreklischees ist, ohne dabei aufgesetzt oder zu gewollt anders zu wirken.
Einen sehr großen Raum nehmen Sexualität und Liebe in der Handlung Imagicas ein – einen so großen, dass sie durchaus den Charakter eines Leitmotivs haben. Dabei verliert sich Barker nicht in Plattitüden, bietet keine billigen Reize, sondern zeigt gerade hier eine unheimliche Ausdruckskraft. Facettenreich beschreibt er das Gefühlsleben seiner Charaktere, ihre Liebe, ihr Begehren, ihre Gier. Statt sich in eindimensionalem Kitsch zu verlieren, schafft Barker es, jede große Begleitemotion der Liebe zu beschreiben; neben Vertrautheit, Verbundenheit, Zuneigung und Innigkeit auch so schwerwiegend negative Aspekte wie Neid, Schmerz, Verlust und Angst. Sexuelle Gier und ihre Folgen sind wiederholt Motor und Initiatoren der Handlung, ebenso wie Reue und Schuld.
Geradezu intim begleiten wir Gentle und seine wachsende Liebe zum geschlechtslosen, zur Wandlung seiner Gestalt befähigten Pie; gerade in der Geschlechtslosigkeit, in der Formlosigkeit dieses Charakters liegt das größte Potential dieser Liebe, die so wenig an Äußerlichkeiten, dafür aber so tief und innig an dem Kern ihrer Persönlichkeiten hängt. So viel mehr hat diese doch sonderbare Konstellation mit echter Liebe gemein, als der oftmals stumpfe oder einseitige Blickwinkel vieler anderer fiktiver Werke. Eventuell sind es auch persönliche Erfahrungen, die der offen homosexuelle Barker in Imagica verarbeitet hat, die diesem Werk seine Komplexität und Authentizität geben.
Jedoch spielen neben Liebe auch sexuelle und körperliche Gewalt in Imagica eine Rolle. Schonungslos präsentiert uns Barker so rohe und brutale Details, die in einem Werk dieses Niveaus nicht unpassend, aber doch sehr unerwartet erscheinen. Clive Barker hat sich vor allem als Autor von Horrorromanen und Drehbuchautor von Horrorfilmen einen Namen gemacht, und diese literarische Herkunft macht sich auch bei Imagica bemerkbar. Blutig und schonungslos beschreibt er jeden Tod, gleichgültig, ob es sich um eine geliebte oder verhasste Figur handelt. Auch hier beweist er eine Phantasie, die geradezu verhindert, dass eben jene Brutalität in stumpfen Trash umschlägt, sondern stets ein gewisses, jedoch verstörendes Niveau behält.
Auch der Schreibstil Barkers harmoniert wunderbar mit der Komplexität Imagicas, Barker erzählt mit beeindruckendem Detailreichtum, gelegentlich auch mit einer Melancholie, die der Handlung steht. Dezent weiß er Farbe auf seine großteils dunkle Erzählung aufzutragen, sie so erst wirklich abzurunden.
Mit in der deutschen Fassung 835 Seiten ist Imagica für einen Einzelband ein recht wuchtiges Werk, und bisweilen ist dieser Umfang auch alles andere als dienlich. Gerade im dritten Viertel des Romans muss der Leser eine Durststrecke erleiden; etwas zu viel Anlauf muss die Geschichte an dieser Stelle nehmen, um wieder wirklich in Fahrt zu kommen. Auch andernorts lässt Barker seinen Figuren und Handlungssträngen viel Zeit, um sich wirklich zu entfalten. Oft trägt dies zur Charakterentwicklung und zur Spannung bei, genau so häufig hätte es eine etwas knappere Ausführung der Geschehnisse auch getan.
Imagica ist ein Roman von unglaublicher Eigenheit. Es ist schwer, ihn mit anderen Werken des Genres zu vergleichen, zu wenig legt Imagica Wert darauf, überhaupt mit dem Genre identifiziert zu werden. Zwar sind Weltenreisen und fremde Welten an und für sich ein wichtiger und häufiger Bestandteil der Fantasy, doch die Handlung, die Atmosphäre und das generelle Feeling Imagicas unterscheiden sich so sehr von anderen Genrevertretern, dass es zweifelsohne eine Sonderstellung inne hat.
Dies mag aus der Sicht der Leser vielleicht auch die größte Schwäche des Romans sein. Wer wirklich pure Fantasy sucht oder einen seichten Schmöcker als Abendlektüre, wird mit Imagica definitiv unzufrieden sein. Zu sehr rüttelt Barker seine Leser auf, zu stark geht er eigene, manchmal auf den ersten Blick recht krumme Wege.
Imagica ist ein Buch für den Leser, der dem doch immer mehr vereinheitlichten Genre müde geworden ist, der den Umfang des Buchs nicht scheut und sich auch an der ein oder anderen verstörenden Szene nicht stört. Für diese Leser aber wird Imagica etwas besonderes sein, ein Buch, das sie nicht mehr vergessen werden.
Ein Buch, das nur deshalb ein Fantasyroman genannt wird, weil es nirgends sonst hineinpasst.